Ein altes Rittermärchen für Kinder

Dieses Rittermärchen habe ich in einem alten Kinderbuch gefunden, das fast 200 Jahre alt ist.

Es stammt von Robert Reinick, einem deutschen Maler und Dichter, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Lieder, Gedichte und Erzählungen für Kinder geschrieben hat. Außerdem hat er Märchen niedergeschrieben.

Die Geschichte handelt von zwei Kindern namens Gertrud und Walther, die wie Geschwister aufwachsen, aber durch das Schicksal getrennt werden. Mit Hilfe eines magischen Raben, der Walther drei Wünsche gewährt, finden sie schließlich wieder zusammen.

Ich kannte die Geschichte bisher noch nicht und konnte sie auch online nirgends finden. Aber ich finde sie zu schön, um in Vergessenheit zu geraten. Deshalb möchte ich sie euch hier vorstellen.

Ich habe den Text sprachlich etwas angepasst, damit er leichter zu lesen ist, dabei aber darauf geachtet, dass der Sinn erhalten bleibt.

Ich wünsche euch viel Spaß mit dem Rittermärchen!

Rittermärchen von Gertrud und Walther

Ein alter Ritter hatte ein Töchterlein mit Namen Gertrud und weil sein Bruder gestorben war, so nahm er auch dessen Söhnlein, namens Walther, zu sich ins Schloss und zog ihn auf wie seinen eigenen Sohn.

Die beiden Kinder lebten als wären sie Bruder und Schwester, spielten miteinander wann immer sie konnten und waren ein Herz und eine Seele.

Als aber Gertrud eines Tages alleine vor das Burgtor hinaus ging, um Blumen zu Pflücken, kamen Gauner auf der Landstraße daher. Sie stahlen das Kind und nahmen es mit sich fort. Keiner wusste, wo es geblieben war. Darüber grämte sich Gertruds alter Vater so sehr, dass er starb. Und auch Walther weinte viele Tage und viele Nächte um seine Gertrud.

***

Als ein warmer Frühlingstag kam und die Bäume schon Knospen bekamen, ging Walther hinaus in den Wald. Dort war ein schöner grüner Platz und unter den Bäumen sprudelte eine Quelle. An der hatte er oft mit Gertrud gesessen und kleine Schifflein aus Nussschalen im Wasser treiben lassen. Auch jetzt setzte er sich an die Quelle, schnitt einen Haselzweig für sein Steckenpferd und sprach dabei zu sich: „Ach, wär ich doch ein Ritter, groß und stattlich, wie die, die immer zu uns aufs Schloss kamen. Dann würde ich in die weite Welt reiten und Gertrud suchen.“

Auf einmal hörte er neben sich etwas schreien und als er aufschaute, sah er einen Raben. Der war so zwischen zwei Baumstämmen eingeklemmt, so dass er sich nicht rühren konnte. Ein Schlange wollte sich gerade auf ihn stürzen, um ihn zu fressen. Walter nahm rasch seinen Stock, schlug auf die Schlange ein und befreite den Raben.

Der Rabe flog auf einen Baum und sprach: „Schönen Dank, liebes Kind! Schönen Dank! Weil du mir das Leben gerettet hast, so wünsche dir etwas und es soll erfüllt werden. In einem Jahr um diese Zeit sprechen wir uns dann wieder.“

Als Walther das hörte, merkte er wohl, dass der Rabe ein Zaubervogel war und sprach freudig: „So möcht ich ein Ritter sein, mit Helm und Schild, mit Ross und Schwert!“

Wie er es gewünscht hatte, so geschah es dann auch. Sogleich wurde er ein großer, stattlicher Ritter. Neben ihm stand ein Schild und aus seinem Steckenpferd wurde ein stolzes Ross. Das Ross wieherte lustig in den Wald hinein, und um ihm zu zeigen, dass es kein Gespenst, sondern ein wirkliches Ross aus Fleisch und Blut war, begann es gleich aus der Quelle zu trinken.

Walther wusste nicht wie ihm geschehen und stand wie im Traum da. Aber dann fühlte er neues Leben in sich. Er schwang sich mit Jünglingsmut auf sein Ross und ritt weit ins Land hinaus, um die kleine Gertrud zu suchen.

***

Unterwegs musste er, wie andere Ritter, viele Abenteuer bestehen. Immer gab es etwas zu kämpfen. Mal mit wilden Tieren, mal mit anderen Rittern, die wie er im Land umherzogen und sich freuten, jemanden zu finden, mit dem sie sich messen konnten. Jedes Mal war Walther der Sieger, denn er war viel tapferer als alle anderen.

***

Endlich erblickte er vor sich auf einem Berge ein hohes Schloss. Es gehörte einer Königin. Als er auf dem Gipfel des Berges angekommen war, sah er von Weitem vor dem Schlosstor ein kleines Mädchen sitzen, das mit einer Puppe spielte. Und als er näher hinsah, da war es die kleine Gertrud.

Walther gab seinem Pferd die Sporen und rief schon aus der Ferne: „Guten Tag, liebe Gertrud!“ Aber das Kind kannte ihn nicht. Er kam näher und sprach: „Ich bin dein Vetter Walther!“ Aber das Kind glaubte ihm nicht.

Als er vom Ross sprang, um es zu küssen und sein Harnisch, sein Schwert und seine Sporen dabei rasselten und klirrten, fürchtete sich das Kind. Es hatte Angst, der fremde Mann könnte ihm etwas zu Leide tun und lief ins Schloss hinein.

***

Darüber war Walther sehr betrübt. Er ließ sich aber doch bei der Königin melden, die ihn auch sehr gnädig empfing. Er erzählte ihr wie sich alles zugetragen hatte und erfuhr auch von ihr, dass sie Gertrud von den Gaunern gekauft hatte.

Als er aber bat, sie möge ihm das Mädchen, das seine liebe Cousine war, mitgeben, versprach sie es ihm nur unter der Bedingung, dass das Kind selbst damit einverstanden war. Denn auch sie hatte das Mädchen von Herzen lieb gewonnen.

Daraufhin rief die Königin die kleine Gertrud herbei und sprach: „Sieh nur, das ist wirklich dein lieber Vetter, hast du ihn denn nicht mehr lieb und willst du nicht mit ihm ziehen?“

Das Kind sah sich den Ritter von oben bis unten an und sprach daraufhin sehr betrübt: „Wenn ihr beide es sagt, dass das der Walther ist, so muss ich‘s wohl glauben. Ach, wäre er noch klein, wie vor einem Jahr, dann würde ich mit ihm ziehen in die weite Welt, wohin er nur wollte. Aber so wie er da ist, mag ich‘s nimmermehr. Was würde es mir auch helfen? Wollte ich wie früher mit ihm Versteck spielen, dann würde sein Harnisch glänzen und seine Sporen klingen und ich wüsste gleich, wo er wäre. Wollt‘ ich mit ihm zur Schulen geh‘n, da würde er doch nicht neben mir sitzen können auf dem kleinen Bänkchen und an dem kleinen Tischlein! Und was könnt‘ ich armes Kind einem so stattlichen Ritter wohl helfen? Wollt‘ ich ihm eine Suppe kochen, dann würd‘ ich mir meine Händchen verbrennen, wollt‘ ich ihm ein Kleid sticken, so würd‘ ich mich in meine Fingerchen stechen und wollt‘ ich mit ihm um die Wette laufen, so lief ich mir meine Füßchen wund. Ja, wenn ich selbst ein Königsfräulein wäre, da wär‘s was anderes.“

Walther fühlte, dass Gertrud recht hatte. Deshalb nahm er Abschied von den Beiden, schwang sich auf sein Ross und ritt davon. Die Königin und Gertrud schauten ihm von der Zinne des Schlosses nach.

***

Kaum war er einige Schritte geritten, da rief von einem Baum eine Stimme herab: „Walther! Walther!“ Und wie er hinaufschaute, war es der Rabe, der zu ihm sprach: „Ein Jahr ist um, seit du dir gewünscht hast ein Ritter zu sein. Hast du einen neuen Wunsch, so sprich ihn aus und er soll dir gewährt werden. Aber sei dir bewusst, das, was du dir vorher gewünscht hast, damit ist‘s dann vorbei.“

Walther aber hörte die letzten Worte gar nicht mehr an, sondern fiel dem Raben ins Wort, sobald dieser gesagt hatte, er dürfe sich noch etwas wünschen.

„So wünsch‘ ich denn“, sprach er, „dass Gertrud ein Königsfräulein wird!“

Aber als er das ausgesprochen hatte, wurde er selbst auch wieder in ein Kind verwandelt und sein Ross in ein Steckenpferd, wie es vor einem Jahr gewesen war.

Als er zur Zinne hinaufschaute, stand neben der Königin ein wunderschönes Königsfräulein. Groß und schlank und prächtig, und das war seine Gertrud.

Da ging der Knabe mit seinem Steckenpferde zur Schlosstreppe zurück und weinte bitterlich. Die Königin fühlte Mitleid mit ihm, ließ ihn herein und versuchte ihn zu trösten.

Das war aber auch ein großes Elend. So sehr das Königsfräulein Gertrud und der Knabe Walther sich auch liebten, sie hatten wenig Freude dabei. Wenn Walther zu ihr sagte: „Komm Gertrud, wir wollen über die Gräben springen und um die Wette laufen“, so erwiderte sie: „Ei bewahre, das schickt sich nicht für ein Königsfräulein. Was würden die Leute dazu sagen?“ Sprach Walther zu ihr: „Komm, lass uns Versteck spielen“, so rief Gertrud wieder: „Ei bewahre, das schickt sich nicht für ein Königsfräulein. Da würde meine Schleppe an den Dornen hängen bleiben und mein Krönchen vom Kopf fallen.“

Sagte Gertrud aber zu Walther: „Geh hin und schieß mir ein Reh für die Tafel“, so brachte Walther ihr wohl eine Maus, aber kein Reh. Und kam nun gar ein wilder Stier oder ein böser Hund auf sie zu, so musste Gertrud den Walther auf den Arm nehmen und mit ihm fliehen, denn sie war ja viel größer als er und auch viel schneller.

Trotzdem blieb Walther im Schloss und die Königin gewann ihn von Herzen lieb.

***

Als wieder ein Jahr um war, saß Gertrud eines Morgens unter einem Baum und stickte und Walther spielte auf dem Boden vor ihren Füßen.

Da rief es wieder vom Baum herab: „Walther! Walther!“ und als der Knabe aufsah, saß der Rabe auf einem Ast und sprach: „Nun kannst du dir noch einmal etwas wünschen und es soll dir erfüllt werden. Dies ist aber das letzte Mal, daher überlege gut!“

Da dachte Walther nicht lange nach und sprach: „So lass uns beide Kinder sein, unser Leben lang!“

Was er sich gewünscht hatte, geschah sogleich, und beide waren wieder Kinder wie zuvor. Darüber waren sie von Herzen froh und spielten miteinander, noch schöner als je zuvor und waren ein Herz und eine Seele.

***

Als aber wieder ein Jahr vergangen war und beide Kinder im Garten saßen, Blumen pflückten und miteinander sangen, kam ein Engel vom Himmel herab geflogen. Er nahm sie beide auf seine Arme und trug sie hinauf in den himmlischen Paradiesgarten und da sitzen sie noch jetzt beisammen, pflücken die köstlichsten Blumen und singen so wunderschöne Lieder, dass selbst die lieben Engel sich darüber freuen.


Noch mehr Rittergeschichten

Noch mehr Rittergeschichten zum Vorlesen gibt es hier:

Rittergeschichte für Kinder
Bewegungsgeschichte Ritter

➔ Zur Übersicht mit noch mehr Rittergeschichten für Kinder geht es hier

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert